Richard Müller (Pfeil) im Kreise der Dresdner Akademieprofessoren
um 1900
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Richard Mueller (left) as a jury-member of the world exhibition St. Louis (USA) 1904
Das überaus facettenreiche Werk des am 28. Juli 1874 in Tschirnitz an der Eger geborenen Richard Mittler nimmt in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung in der Kunst Dresdens ein.
In der späteren Rezeption oftmals ungerecht beurteilt, findet sich in ihm manche Vorwegnahme auf künstlerische Entwicklungen, die ihre Blüte erst in späteren Jahren entfalten sollten. In "Du Monts Lexikon der Phantastischen Malerei" (1977), wurde diese Vorreiterrolle erstmals wissenschaftlich bestätigt. Dort finden sich Verweise auf Müllers künstlerische Bedeutung für den "Collagen-Surrealismus. eines Max Ernst ebenso wie dessen Würdigung hinsichtlich des Photorealismus. Auch dem Symbolismus hat Müller wesentliche Impulse gegeben, was im Folgenden näher untersucht werden soll.
Müllers hohe künstlerische Begabung zeigte sich bereits in frühen Knabenjahren. Resultat davon war ein Sonderbeschluss* des Akademischen Rates der Königlichen Kunstakademie zu Dresden, der es Müller ermöglichte, noch fünfzehnjährig (Zulassung erst ab 16 Jahre) mit einer Ausbildung ebendort zu beginnen. Dies geschah 1890 mit dein Eintritt in die Naturklasse, deren Lehrer Professor Leonard Gey, ein ehemaliger Schüler Schnorr von Carolsfelds, war. Geys Werk ist heute nahezu vergessen. Doch für Müller, dessen Kommilitonen Sascha Schneider und Oskar Zwintscher darf ein wesentlicher Einfluss auf deren Entwicklung angenommen werden. Später übernahm der bedeutende Realist Leon Pohle die weitere Ausbildung der jungen Studierenden. Für Müllers Entwicklung von geradezu herausragender Bedeutung waren jedoch noch zwei andere Künstler. Zum einen war dies Ernst Moritz Geyger, der 1893 für fünf Monate ein Meisteratelier für Kupferstich an der Dresdner Akademie inne hatte, zum anderen war es der wohl bedeutendste sächsische Künstler seiner Zeit - Max Klinger. Von Geyger lernte Müller sicherlich Einzelheiten der grafischen Techniken. Bedeutsamer war jedoch die Auseinandersetzung mit dessen Thematiken, die vielfach sicherlich wiederum ebenfalls von Klinger inspiriert waren. Bei Geyger entwickelte sich ab 1887 eine zunehmende Vorliebe für satirische Sujets, die in der Art von Tierfabeln entwickelt wurden. Elefanten, Affen und vor allem Marabus wurden zu exponierten Trägern menschlicher Eigenschaften und Unzulänglichkeiten. Angeregt war diese Entwicklung sicher von Klingers grafischen Arbeiten und von dem 1882 geschaffenen Gemälde Die Gesandtschaft, auf dem zwei hässliche Marabus durch einen Flamingo einer sich sonnenden nackten Schönen ein sicherlich "unmoralisches". Angebot unterbreiten lassen. Müller hat sich diesem Komplex in der Folgezeit immer wieder angenommen und vielfach variiert. Wahrscheinlich 1895 lernte Müller Max Klinger persönlich kennen. Dieser war begeistert von dem jungen Künstler und ermunterte ihn, sich fortan der Graphik zuzuwenden. Nicht zuletzt dürfte für diese Hinwendung aber auch die Auslobung eines Reisestipendiums für Radierer und Kupferstecher durch die Akademie bedeutsam gewesen sein. Das Jahr 1896 war durch das Experiment mit verschiedenen graphischen Techniken gekennzeichnet. Vorerst entstanden Lithographien mit Tiermotiven. Doch zur gleichen Zeit eroberte sich der Künstler,das schwierige Metier der Radierung. Schon die ersten Ergebnisse wiesen eine erstaunliche Perfektion aus. Der Gewinn des ersehnten Rompreises gelang bereits 1897 Mit der großformatigen Radierung "Eva und Adam" (WVZ 26). Auf schlankem Hochformat interpretierte Müller geschickt und eigenwillig die Geschichte des Sündenfalls. Als Modelle agierten zwei junge Menschen aus seiner nächsten Umgebung, in nichts geschönt und dadurch von einnehmender Modernität. Den hinter ihnen liegenden Paradiesgarten bevölkern Flamingos und anderes Getier. Im Geäst des Baumes der Erkenntnis hängt die versuchende Schlange. Sie hat den verhängnisvollen Apfel der kindlichen Eva in die Rechte gelegt. Diese hat die verbotene Frucht bereits genossen und
verdeckt nun schamhaft mit der linken Hand ihre Blöße. Ähnlich wie bei Klinger legte auch Müller einen zur Bildaussage relevanten Rahmen um die Szenerie: Oben strahlt das allsehende Auge Gottes, am linken Rand sprießt eine weiße Lilie als Zeichen der Reinheit, die sich infolge des Sündenfalls am rechten Bildrand in eine stachlige Distel verwandelt hat. Thema und Behandlung weisen deutliche symbolistische Bezüge auf. Gleiches gilt für die ebenfalls 1897 geschaffene Radierung "Bogenschütze" (WVZ 22). Auch dies ein Thema, welches die gesamte symbolistische Kunst durchzieht.
Zur gleichen Zeit arbeitete Müller aber auch anders geartete Radierungen wie "Telegrafenmasten" (WVZ 28) oder "Glasdach einer Fabrik" (WVZ 30), die als eine Vorwegnahme des magischen Realismus interpretiert werden können. Eindeutig wieder von Klinger inspiriert ist die 1898 geschaffene Radierung "Skelett im Grase" (WVZ 42), welche vielleicht auf Klingers "Auf den Schienen" aus "Vom Tode I" zurückzuführen ist. Ermüdet ruht der Tod von seiner harten Arbeit. Die Sense liegt neben ihm im Schatten der Bäume. In der Ferne am Horizont findet sich die Silhouette einer Stadt, wo reichlich Opfer zu finden sind. Auch dieses Thema zieht sich über die gesamte symbolistische Kunst von Puvis de Chavannes bis hin zu Hans Unger. Ein weiteres Werk mit symbolhafter Thematik gestaltete Müller um 1900 mit der Radierung "Am Meer" (WVZ 52). Das Motiv des vereinzelten, verlassenen Menschen vor der Unendlichkeit des Meeres oder des Firmaments war bereits durch die Romantik, etwa Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer", vorgebildet. Neuen Aufschwung erhielt das Thema durch ein Gemälde des Franzosen Hippolyte Flandrin, welches tausendfach als Reproduktion vertrieben wurde und zahlreiche Schöpfungen anregte. Auch Max Klinger huldigte diesem Themenkreis in seinem Zyklus "Vom Tode II".
Nach 1903 ruhte Müllers graphische Produktion für ein halbes Jahrzehnt. Sicherlich waren die verstärkten Anforderungen der Professur sowie die wachsende nationale und internationale Anerkennung dafür verantwortlich. In mehreren großformatigen Gemälden und Zeichnungen blieb der Künstler jedoch der symbolistischen Thematik treu. So entstanden zwischen 1904 und 1906 die Zeichnungen zu den "Bogenschützen II-IV", die später in Radierungen umgesetzt wurden und denen eine fast
surreale Atmosphäre innewohnt. Eine der bedeutsamsten Gemälde schuf Müller 1908 mit "Danae". Aus der griechischen Mythologie entnommen, wandelte Müller den Akt der göttlichen Befruchtung durchaus modern ab, wenn auch die schwere barocke Draperie dieses nicht sofort zu erkennen gibt. Zeus fällt als Goldregen, hier angedeutet durch Flammenzungen, aber auch sehr leibhaftig auf Danae. Im kühnen Schwung entledigt er sich dem hindernden Gewande, um eben den göttlichen Liebesakt vollziehen zu können, aus dem Perseus erwachsen wird. Müllers skurriler Humor wird auch hier wieder deutlich. Der Künstler verlegt den Akt der göttlichen Befruchtung einfach in die Berge der heimatlichen Sächsischen Schweiz. So räkeln sich die beiden vollendeten Akte genussvoll auf den Felsen der Bastei. Aus dem Hintergrunde grüßt klein ein rotgedecktes Einfamilienhäuschen. Müller zeigt hier seinen Hang zur Ironisierung, der schon bei seinen Vorbildern wie Felicen Rops oder Antoine Wiertz vorhanden war. folgenden Jahr entstand ein gigantischer ”Christus, der zu den symbolträchtigsten Werken Müllers gehören dürfte. Die Mittelachse beherrscht die monumentale gekreuzigte Christusfigur, die ihre Anregung von Grünewalds Isenheimer Altar empfing. Im dunklen Gewölk über dem Heiland tobt eine wilde Jagd, die ebenfalls von Grünewald inspiriert scheint. Neben den nagelgeschundenen Füßen kniet Petrus mit dem Modell des römischen Petersdomns in der Hand. Hinter ihm schiebt sich eine maschinengewehrbewaffnete Hand bedrohlich aus dem Dunkel. Aus den durchbohrten Händen fließt das Blut in das heilige Gralsgefäß, welches nach christlicher Oberlieferung Josef von Arimatäa zu diesem Zweck bereithielt. Gleichzeitig scheint sich in dem Gral eine materielle Umwandlung zu vollziehen. Aus dem Gefäß sprießen Märtyrerblumen und scheinen als Mond und Sterne zu Boden zu fallen. Am Fusse der Schädelstätte winden sich ekle Schlangen über totes Gebein. Dass das Gemälde Müllers Zeitgenossen noch fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung beschäftigt, zeigt ein Brief des Künstlerkollegen Richard Guhr vom 29. Juli 1934. Dort ist zu lesen:
"Ihre gestrige Mitteilung, daß man Ihre "Kreuzigung" als antichristlich beanstande und daß der Gedanke aufkommen konnte, die Entfernung des Bildes aus der Ausstellung zu beantragen, beschäftigt mich auch heute noch aufs lebhafteste. Sie wissen, wie hoch ich gerade dieses Werk Ihrer Hand, welches mir ja schon lange durch die Reproduktion bekannt ist, schätze und daß ich Sie des öfteren drängte, das Bild als Hauptstück in einer deutschen Ausstellung der Oeffentlichkeit bekannt geben. Ich kenne in der Kunstgeschichte keine Kreuzigung, in welcher das Erschütternde des leidenden Gottmenschen einen zwingenderen, athemberaubenderen Ausdruck gefunden hätte - den Crucifixus des Isenheimer Altars von Grünewald vielleicht ausgenommen, neben dem Ihre Darstellung sich einmal ebenbürtig behaupten wird. Ich sehe in Ihrer Kreuzigung das stärkste Bild Ihres Gesamtwerkes und - im Rahmen der Ausstellung - den Mittel und Gipfelpunkt der ganzen Schau! Zu allen Zeiten hat ja frommer Eifer in Verbindung mit mangelndem Kunsturteil auch dem ernsthaftesten Künstler vorschreiben wollen, wie er den Erlöser darzustellen habe, ohne dabei zu bedenken, daß der Künstler, der schöpferische Mensch, doch allein hier zuständig sein müsse. In den Zeiten des vergangenen Kunstverfalls hat gerade die evangelische Kirche hier in Dresden bedenklich mit dem Kulturbolschewismus geliebäugelt (Kreuzkalender, Pfarrer Arndt von Kirchbach etc.). Umso befremdlicher will mir heute die anmaßliche Kritik dieser Kreise erscheinen an einem Werke, dessen bis ins höchste getriebene Gestaltung auch dem einfachsten Laien sagen muss, daß hier ein außergewöhnliches Können, ein überragender Fleiß und damit ein frommer, deutscher Sinn tätig waren, von dem liebevollen Walten einer auch die Nebensachen bedenkenden Phantasie ganz zu schweigen!"
Hier zeigt sich das sich immer mehr anbahnende komplizierte Verhältnis zwischen der Müllerschen Kunst und den Ansichten des Nationalsozialismus. Doch davon wird noch zu handeln sein. Vorerst wenden wir uns nochmals der um 1908 wieder einsetzenden graphischen Produktion zu.
Wie viele seiner Künstlerkollegen reagierte auch Müller auf die drohende Kriegsgefahr. Das sicherlich interessanteste Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist die Radierung "Todeskampf" (WVZ 68), die auf einer Zeichnung von 1912 basiert. Ein bogenschwingender Tod kämpft mit einem nackten, verwundeten Krieger. Der prachtvolle Männerakt steht im krassen Gegensatz zu dem klapprigen Skelett vor dem bedrohlichen Himmel und kann durchaus Klingers Blättern aus den Todeszyklen beigesellt werden. In dem Blatt verbinden sich Assoziationen mittelalterlicher Totentanzdarstellungen mit den dekadenten Auffassungen der Jahrhundertwende. Auch die hier gezeigte Zeichnung mit dem trommelnden Tod gehört in diesen Zusammenhang. Mit der Radierung ,"Der Tod als Brandstifter" (WVZ 83) schuf Müller 1916 eine weitere Vision zum Kriegsthema. Der fackeltragende, sengende Tod, dessen unabdingbare Gewalt durch seine riesige Gestalt angedeutet ist, entzündet darin eine am Flussufer gelegene Stadt. Die Umsetzung erinnert stark an Klingers Zeichnung "Der Pflasterer" von 1879 oder an das Blatt "Dritte Zukunft" (1880) aus dem Opus III.
Kehren wir noch einmal zu den Einflüssen aus Klingers Gemälde "Die Gesandtschaft" zurück. Ab 1912 variierte Müller den Themenkomplex in vielen Zeichnungen und Radierungen. Immer nähern sich kuriose Wesen wie Marabus, Gürteltiere oder Ameisenbären dem nackten Weibe. Vielleicht wurde mit diesen Arbeiten der lüsterne Geschmack und die Scheinmoral der bürgerlichen Gesellschaft mehr bedient als karikiert. Diesen Themenkomplex bearbeitete Müller bis in die Mitte der zwanziger Jahre, wo unerklärlicherweise die graphische Produktion unvermittelt endete. Mit ihr erstarb auch der Hang zur symbolträchtigen Aussage. Fortan arbeitete Müller fast nur noch Landschaften, Porträts, Stillleben und realistische Tierdarstellungen. Der heraufziehende Nationalsozialismus fand in Richard Müller einen Sympathisanten. Doch war dieses Verhältnis durchaus ambivalent. Von Seiten der neuen Machthaber waren Müllers laszive Arbeiten nach 1910 ungern gesehen, was nicht zuletzt der Anlass zur Entlassung 1935 aus dem Lehramt wurde. Andererseits hat Müller in der Strenge der neuen Richtung eine Chance dafür gesehen, die ihm nicht behagende Kunstentwicklung der Nachkriegszeit einzudämmen. Dass er dabei auch vor der üblen Schmähung seiner einstigen Schüler nicht Halt machte, gehört zu den negativen Seiten der Person Müller. Sein Bann traf Dix ebenso wie Schmidt-Rottluff, Kirchner, Felixmüller, Grosz, Kokoschka u.v.a. Aber auch eine Andienung bei den neuen Machthabern misslang.
Müller saß zwischen den Stühlen. Die Arbeit an der Zeichnungsserie "Aus der Heimat Adolf Hitlers und denkwürdige Stätten des nationalsozialistischen Deutschlands" 1937 ließ nach dem Krieg eine Rehabilitierung nicht mehr zu. Allerdings muss festgestellt werden, dass sich sowohl Hans Grundig als auch Fritz Löffler als selbsternannte Richter weit über Wahrheit und Anstand hinausbewegten. Auch darüber werden kommende Forschungen noch ausreichende Erhellung bringen.
Richard Müllers Leben endete am 7. Mai 1954 in Dresden-Loschwitz.
*Lt. Mitteilung von Matthias Griebel, ehemals Direktor des Dresdner Stadtmuseums und in Oberloschwitz Nachbar Richard Müllers, war man in Dresdner Kunstkreisen der festen Überzeugung, daß Müller ein illegitimer Sohn des Königs Alberts von Sachsen gewesen sei, aufgewachsen bei Pflegeeltern, denen man ein gutes Auskommen kurz hinter der sächsischen Grenze in Böhmen besorgt hatte. Ausser der frappierenden Ähnlichkeit mit dem Monarchen erklärte man seine steile Karriere in königlichen Institutionen ("entdeckt" von einem Inspektor der Königl. Porzellanmanufaktur Meissen dann reibungslose Aufnahme in die Königliche Kunstakademie, mit 24 Jahren Professur, Heirat mit einer Sängerin, die beim Hof ein- und ausging ) mit allerhöchster Protektion.