Rolf Günther, RICHARD MÜLLER, Artikel , erschienen 1995 in der "Weltkunst"


 
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Aus: Bildende Kunst XXVII Jahrgang (1914):

Richard Müller

Von Georg Buss

Die Dresdner Künstlerschaft hat am 6. Februar das hundertfünfzigjährige Bestehen der Königlichen Akademie der bildenden Künste gefeiert. Sie konnte das schöne Fest mit gehobenen Gefühlen begehen, denn das Kunstleben von Elb-Florenz hat seit einigen Jahrzehnten mächtigen Aufschwung genommen. Die Plastik, in der Männer wie Rietschel, Hähnel und Schilling ausgezeichnete Werke geschaffen, stand zwar auf der Höhe, aber die Malerei reichte, obwohl die Bedeutung von Bendemann, Hübner, Ludwig Richter, Schnorr und Preller anerkannt werden muss, nicht an sie hinan. Dass von Zeit zu Zeit ein frischer Wind einsetzen muss, ist eine natürliche Notwendigkeit, denn sonst wird die Atmosphäre stagnierend. Die Akademie und die Künstlerschaft haben sich dabei bestens entwickelt. Hervorragende Lehrkräfte entfalten an der Akademie eine fruchtbare Tätigkeit, das ehrliche Naturstudium ist zu seinem Recht gelangt, kräftige Talente sind erwachsen und neue folgen den älteren. Auch die Teilnahme des grossen Publikums, nicht nur des lokalen, sondern ganz Deutschlands und des Auslandes, hat erheblich zugenommen, bieten doch die Kunstausstellungen seit dem Jahre 1897, da sie zum ersten Male internationalen Charakter erhielten, ein Muster vorzüglicher Anordnung. Besonders sind in dieser Beziehung die Verdienste zweier Männer hervorzuheben: Gotthardt Kuehl's, der im Jahre 1893 an die Dresdner Akademie berufen wurde, und Max Lehrs, der, bevor er die Leitung des Königlichen Kupferstichkabinetts in Berlin an Stelle des verstorbenen Lippmann übernahm, geraume Zeit in Dresden tätig war. Es würde zu weit führen, auf diese Entwicklung der Dresdner Kunsttätigkeit, an der eine stattliche Anzahl tüchtiger Kräfte beteiligt ist, näher einzugehen, nur sei betont, dass sie von allem Eklektizismus sich Iosgerungen hat, obwohl gerade hier, wo die ältere Kunst in den Sammlungen, Denkmälern und Bauten so glänzend vertreten ist, die Gefahr eines Verzichts auf die eigne Auffassung sehr nahe lag. Eine besonders starke Note spielt unter der Dresdner Künstlerschaft die graphische Kunst. Allerdings der reine Linienstich, in dem hier Müller, Steinla und Büchel Meisterwerke schufen, hat wie überall an Anziehungskraft erheblich ein-gebüsst; aber um so mehr blühen die Radierung und die Steinzeichnung. Sie kamen stärker in Aufnahme zu Anfang der neunziger Jahre, als die Sezession unter den jungen Künstlern Boden gewann. Wie in Berlin, Karlsruhe und München wandte man sich den beiden graphischen Verfahren mit wahrem Enthusiasmus zu. Vornehmlich waren es Hans Unger, Georg Müller-Breslau, Sascha Schneider, Marianne Fiedler, Georg Lührig und Otto Fischer, dann auch Hans Pietschmann, Ludwig Otto, Lorenz Wiest und Richard Müller, die sich hervortaten. Gleich in den ersten, von einer Vereinigung von Künstlern herausgegebenen Jahresheften für Griffelkunst fanden sich vorzügliche Leistungen, unter denen vornehmlich die radierten Landschaften hervorragten. So ist kräftig emporgewachsen und zur Blüte gebracht worden, was damals hoffnungsfroh begonnen wurde. Zu den interessanten Erscheinungen des Dresdner Künstlerkreises gehört Richard Müller. Er steht jetzt im vierzigsten Lebensjahre und wirkt fast anderthalb Dezennien als Lehrer an der Akademie. In schnellem Ansturm ist er emporgestiegen, früh eine fest in sich gegründete Persönlichkeit, in der Talent, ideales Streben, Fleiss und Energie einen harmonischen Bund geschlossen. Im Jahre 1874 zu Tschirnitz bei Karlsbad in Böhmen geboren, kam er mit vierzehn Jahren nach Meissen, um die Zeichenschule der Königlichen Porzellan-Manufaktur zu besuchen. Es war gerade die Zeit, da der kunstgewerbliche Wetteifer auf keramischem Gebiete mit aller Kraft eingesetzt und eine sorgfältige zeichnerische, malerische und plastische Ausbildung der erforderlichen künstlerischen Kräfte veranlasst hatte. Zwei Jahre später war der junge Schüler bereits derart vor geschritten, dass er die Dresdner Akademie beziehen konnte. Hier waren seine Lehrer Leonhard Gey und Leon Pohle. Gey, ein Schüler Schnorrs und von Beruf Historienmaler, hat sich durch seine Fresken und seinen in der Nationalgalerie zu Berlin befindlichen „Luther, die Bibel übersetzend”, Pohle durch seine Porträts und Genrebilder hervorgetan. Unter der fruchtbaren, Lehrtätigkeit beider Männer gelangte der junge Akademiker nach abermals zwei Jahren so weit, dass er das Wagnis unternehmen konnte, mit einigen Griffelarbeiten an die Öffentlichkeit zu treten. Dann errang er Erfolg mit einem Plakat. Der Kunst war ja im Plakatwesen ein neues Gebiet erschlossen worden: Cheret und Grasset in Paris hatten mit ihren eleganten Plakaten und Maindron mit seinem Sammelwerke „Les affiches illustrees” die Strasse erobert. Englische und amerikanische Künstler, wie der witzige Dudley Hardy, der Karikaturist Beardsley und der flotte Bradley, waren nicht zurückgeblieben. Auch in Deutschland hatte die Bewegung, gefördert durch zahlreiche Wettbewerbe, kräftig eingesetzt und manches Talent auf den Plan gerufen. Aber schwerwiegender als der vorbezeichnete Erfolg war, dass der junge Künstler sich durch seine Leistungen den Rompreis und die grosse Goldene Medaille in Dresden errang. Eine Auszeichnung in Paris gesellte sich später hinzu. Und weiter ging der Aufstieg, denn der Sechsundzwanzigjährige wurde an die Dresdner Akademie, deren Schüler er vormals gewesen, als Lehrer berufen. Wenige Jahre nachher, im Sommer 1903, erhielt er einen Ruf an die Berliner Akademie, dein er jedoch nicht folgte: er ist Dresden, das ihm längst eine zweite Heimat geworden, bis auf den heutigen Tag unentwegt treu geblieben. in den zwanzig Jahren seines selbständigen Schaffens hat er eine eminente Schaffenskraft entwickelt. Sie verdient uni so mehr Anerkennung, als sie mit höchster Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt gepaart ist. Jede Zeichnung, jede Radierung, jedes Gemälde legt von dieser sich bis ills kleinste Detail erstrecken-den Solidität der Ausführung Zeugnis ab. Das geniale Überfliegen und die Spekulation auf die Phantasie des Beschauers, die das flüchtig An-gedeutete schon genügend ergänzen werde, liegen ihm fern. Bereits in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, als in der Grossen Berliner Kunstausstellung eine kleine Serie seiner Arbeiten in der gemischten Manier von Kupferstich und Radierung zu sehen war, liessen sich alle jene Vorzüge feststellen. Auch der weite Umfang seines Stoffgebietes fiel auf - Marabus, Orang-Utangs, ein Motiv bei Wachwitz, Asphaltarbeiter, Skiläufer und ein männlicher Kopf. Die Feinheit der Naturbeobachtung verlieh jeder Darstellung überzeugendes Leben. Den Marabus, Affen und anderem Getier hat er auch späterhin grosses Interesse entgegengebracht.. Einige Gaben aus seinen Mappen begleiten diese Zeilen, so dass jeder ihren Reiz geniessen kann. „In voller Würde” ist eine kleine Schöpfung sonnigen Humors. Das Groteske und doch zugleich Gemessene und Würdevolle des Marabus mit seinem starken, kräftigen, langen Schnabel, dem wie grindig erscheinenden Schädel und dem gewaltigen nackten Kropfe ist vorzüglich wieder-gegeben. Obgleich dieser afrikanische Vetter unseres beliebten Hausstorches wegen seiner Gefrässigkeit und Aasjägerei einer der widerlichsten Vögel ist, nimmt er sich doch in diesem Falle sehr erträglich aus, etwa wie ein verkappter Gentleman in Frack und weisser Weste, der Zylinder, Handschuhe und Stock abgelegt hat, uni sein elegantes Exterieur auf die photographische Platte bannen zu lassen. Ein scherzhafter Zug ist auch in der Szene zwischen Affe und Fasan zum Ausdruck gebracht, allerdings auf Kosten des bedauernswerten Vogels, dessen prächtiges Schwanzgefieder dem wenig rücksichtsvollen Vierhänder sehr wahrscheinlich zur Beute fällt. Die minutiöse Feinheit des Details ist bei beiden Tieren ebenso bewundernswert wie die Wahrheit der Bewegung. Auch in der „Maus mit Lorbeerzweig” ist die subtile Durchführung bis zurrt höchsten Grade geschehen. Schon mehrfach hat der Künstler die niedlichen kleinen Nager zum Gegenstande seiner Darstellung gewühlt und dabei ihr Äusseres und ihr Gebaren mit frappierender Wahrheit geschildert. Ein kleines Juwel dieser Art ist die Maus in der Falle. Das Mäuschen, das den Lorbeerzweig benagt, scheint übrigens eine Allegorie auf die Vergänglichkeit des Ruhmes zu sein. Ein tieferer Sinn Liegt auch der brillant gezeichneten Phantasie „Nach beendetem Spiel” zugrunde: das Schach des Lebens ist zu Ende, die Knochenhände des Sensenmannes haben zugegriffen und versenken Könige und Königinnen, ritterliche Läufer und arme Bauern schonungslos in die Tiefe des Beutels — also im ganzen genommen ein origineller Totentanz, nicht ohne packende Wirkung. Dann ein kleines Porträt — das des Malers Gliese. Mit den tiefen Schatten massen, die nach der unteren Gesichtspartie hellem Licht weichen, ähnelt die Wirkung der eines Schabkunstblattes. Unwillkürlich wird man erinnert an das Schwarzkunstblatt des Prinzen Rupert von der Pfalz, jenen aus tiefen Schatten auftauchenden, vorn von sonnigem Licht erhellten, feurig blickenden Jünglingskopf, unter dessen federbesetztem Hut seitlich üppig gelocktes Haar hervorquillt. Ein Beispiel, wie der Künstler auch einer Plattenrüstung fessel nden Reiz abzugewinnen und dabei den Charakter des Materials, des Eisens, sowie alle Einzelheiten dieses komplizierten Werkes alter Harnischmacherei genau zu kennzeichnen weiss, bietet sich ebenfalls dar. Es berührt diese Zeichnung geradezu monumental — sie lässt die kraftvollen Männer ritterlicher Zeit, die, hoch zu Ross, in solchem schweren Schutz ihre Fehden ausfochten und dabei totbringende Schwabenhiebe austeilten, wieder lebendig werden. Nicht minder hat er seine Kraft als Maler bewährt. Der predigende Mönch, ein Bild von tiefer Charakteristik, in dem das Asketische die Stimmung angibt, das von Leben erfüllte, fein individualisierte Porträt seines Vaters, das Bild einer alten Frau und eine stattliche Reihe anderer Schöpfungen, tinter denen auch formenschöne weibliche Gestalten nicht fehlen, lassen ihn als einen gedankenreichen Meister erscheinen, der nicht so sehr auf die blendende Pracht der Farbe, als vielmehr auf das Ausprägen seelischer Zustände, tiefen Innenlebens und gedanklicher Prozesse Wert legt. In manchen Bildern klingt auch etwas wieder von der altdeutschen Weise, die gern mit dem Reiz knittrigen Faltenwurfes, mit den Mitteln einer subtilen Zeichnung und mit dem Eingehen auf Details zu wirken suchte Dass er in dieser Beziehung zu weit ginge, etwa wie der alte Balthasar Denner, der jedes Haar und jede Runzel mit minutiöser Genauigkeit wiedergab, als ob jedes Bild den Mikroskop standzuhalten hätte, lässt sich nicht sagen: bei allem Eingehen auf Einzelheiten ist doch seine Vortragsweise eine breite und geschlossene, und zwar gilt das in erhöhtem Masse von seinen jüngeren Bildern. Von den koloristischen Überschwänglichkeiten einer überschäumenden, pointilistisch, kubistisch und futuristisch experimentierenden Jugend hat er sich fern gehalten. Gross geworden unter den Stürmen der Sezession, hat er am Berechtigten und Guten ihres Strebens teil genommen. Das beweist die Feinheit, mit der er die Veränderungen der Farben unter den Wirkungen wechselnder Luft- und Lichtphänomene zu schildern weiss. Aber zu einer koloristischen Sensationsmache hat er sich nie herabgelassen — für eine solche ist ihm sein Pinsel zu vornehm. So steht der Künstler als Graphiker und Maler unter den Kollegen der Dresdner Kunstgemeinde hochgeschätzt da, rüstig und mit steigenden Erfolgen schaffend, wie denn seine Werke auch ausserhalb von Elbflorenz besten Ruf geniessen, zu den gern gesehenen Gästen grosser Kunstausstellungen gehören und in hervorragenden Kabinetten, Museen und Galerien des In- und Auslandes anzutreffen sind.


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